Mittwoch, September 20, 2006



Butterflies

Gestern Abend habe ich mich zum ersten Mal mit den Butterflies getroffen. Das sind Kinder Jugendliche, die tagsüber auf der Straße leben, aber nachts in dem großen Klassenzimmer im Keller des Hope Projects einen sicheren Schlafplatz finden, da sie keine Verwandten mehr haben, die sich um sie kümmern können oder sie von zu Hause ausgerissen sind.
In ihrem Raum wurden Schließfächer eingebaut, so dass sie tagsüber, wenn der Raum für die Schule genutzt wird, dort ihre wenigen Habseligkeiten lagern können. Außerdem können sie abends dort etwas essen und auch duschen. Es sind die ganze Nacht zwei Nachtwächter präsent (einer von ihnen ist gleichzeitig mein Hindi- Lehrer), einer davon am Eingang, der die Kinder bei der Ankunft durchsucht, damit keine Waffen oder Drogen in ihren Raum gelangen können und einer, der mit ihnen im Raum schläft um dort Ansprechpartner für die Kinder zu sein und Auseinandersetzungen schlichten zu koennen.
Jeder der vielleicht auch nur auf Reisen mal einige Zeit obdachlos war, kann sicher nachvollziehen, dass drei der wichtigsten Bedürfnisse ein sicherer Platz zum Schlafen, eine Möglichkeit zum Waschen, eine Mahlzeit und ein sicherer Ort für seine Habseligkeiten sind.
Ich hatte natürlich einige Sorgen, was ich eigentlich tun sollte, wenn ich die Butterflies treffe, denn natürlich spricht kaum jemand von ihnen auch nur ansatzweise Englisch und ich habe auch durch meine Zivi- Zeit im Kinderhort wohl nur wenig nutzbare Erfahrungen mit Kindern mit einem solchen sozialen Hintergrund gewonnen. Glücklicherweise gibt es ein internationales Kommunikationsmittel: Spiele. Man sagte mir, dass das Kharam Board- Spiel sehr beliebt bei den Kids wäre und so wollte ich mir das Spiel zeigen lassen.
Als ich in den Raum kam, hatten es sich die ca. 15 Butterflies schon gemütlich gemacht, einige schliefen sogar schon auf Matten auf dem Boden (das ist normal in Indien), die anderen hatten sich vor dem Fernseher hingefläzt, die älteren Kids nahmen meine Anwesenheit nur kurz zur Kenntnis und nachdem ich in gebrochenem Hindi gesagt hatte, dass ich gerne Kharam Board lernen wollte, wandten sie sich bald wieder der indischen Seifenoper zu, wahrscheinlich mit der wohl weltweit verbreiteten Teenagereinstellung: "Ich bin viel zu tough und cool für solche Kinderspielchen, ich schaue jetzt lieber fern." Die jüngeren Butterflies jedoch waren jedoch begeistert und es gab erste Raufereien um die drei Mitspielerplätze. Die Regeln konnten sie mir mit wenig Englisch und viel Zeigen schnell erklären. Kharam Board kann man am ehesten als eine Art Minimalversion von Billiard erklären, man spielt es auf einem kleinen Holzbrett mit vier Löchern in den Ecken, statt Kugeln verwendet man kleine Holzscheiben und statt Billiardstöcken spezielle Schnipptechniken mit den Fingern. Es ist eine Möglichkeit mit wirklich einfachen Mitteln wirklich viel Spaß zu haben. Auch die 8- jährigen spielen so viel besser als ich, aber ich werde ja noch Zeit zum Lernen haben.
Was mir gerade beim Spielen immer wieder aufgefallen ist, ist die explosionsartige Aggression mit denen die Kinder reagieren, wenn sie sich unfair behandelt fühlen. Der Verdacht des Schummelns oder wenn jemand mitspielen will, aber gerade nicht darf, reicht aus, und schon startet eine wirklich bösartig aussehende Rangelei. Glücklicherweise greifen die anderen Kinder meist schnell ein und versuchen die Streithähne mit "No fight!"- Rufen und voneinander Wegzerren auseinanderzubringen und bereits weniger als eine Minute nach einer wirklich üblen Streiterei spielen die beiden Streithähne wieder friedlich miteinander.
Ich habe das Gefühl, dass die Kinder ein gutes Gefühl für Fairness haben. Sie haben sich beispielsweise immer für mich eingesetzt, wenn jemand versuchte, meine mangelnden Regelkenntnisse auszunutzen, mir gegenüber sind sie nicht agressiv. Vermutlich sind diese explosionsartigen Agressionsausbrüche einfach notwendig, wenn man auf der Straße lebt und sein Essen und andere Lebensbotwendigkeiten verteidigen muss. Außerdem sind die meisten der Kinder und Jugendlichen genauso schnell und explosionsartig beim Lachen. Der Nachtwächter im Raum erzählte mir das wirklich schlimme Ausschreitungen eher selten sind und versicherte mir auch, dass sein Job eigentlich gar so schwer ist, wie er auf dem ersten Blick erscheint, denn die Kids wären hier so zufrieden wie selten in ihrem Leben und wären darum meist in satter, fernsehberieselter, spielbereiter oder einfach nur schlafbedürftiger Stimmung.

Nachtrag: 3 Nächte später... (das Foto ist von diesem Abend)
Mittlerweile habe ich dank Bollywood Tanzmusik auch einen Zugang zu den Toughen und Coolen unter den Butterflies gefunden, ich denke ich werde "Wenn Du nicht gut tanzen kannst, tanze wild!" ab jetzt als Lebensmotto verwenden.

1 Comments:

Blogger cmx said...

ja, den tanzenden simon kann ich mir gut vorstellen!
schön von dir zu lesen. krasse sachen machst du mal wieder... :)

6:42 PM  

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